Das Vorwort


Das Geheimnis kreativen Schaffens

Wahrnehmung, Transmission, Entäußerung

Jeder Mensch ist ein wahrnehmendes Wesen. Bilder, Töne, Farben, Bewegung, Beschleunigung, Töne, Tonlagen, Lautstärken, Gerüche, Schmerz, Sprache, Wörter usw. nimmt er über seine Sinnesorgane wahr, vielfach entsprechend allgemeiner, gelernter Übereinkünfte, der eigenen Erfahrung, Erinnerung und kognitiver Kompetenz („Das ist ein Stuhl“, „Das ist die Note C“, „Dieses Parfum riecht gut“, “Das ist die Farbe rot“, „Das ist das Wort Esel“, „Das ist meine Schwester Sigrid“ usw.).

Nur über solche abgesprochenen, sinnhaften Sinngebungen und eindeutigen Deutungen sowie vereinbarten Übereinkünften kann Kommunikation, Sprache, soziales Verhalten usw. zwischen Menschen existieren.

Doch bei jeder dieser menschlichen Wahrnehmungen überschreitet die sogenannte allgemeine, abgestimmte, sinnvolle Realität der Übereinstimmungen bei jedem Menschen eine Grenze, eine Schwelle vom Außen des Soseins in das Innen des subjektiven Seins. In diesem Prozess der „Intersubjektivität“ 1) wird das ES z.B. eines Hauses zu meinem Ich des Hauses, zu meinem Haus. In diesem Moment erschaffen wir, gewollt oder ungewollt, – trotz aller Übereinkünfte – in uns eine eigene, neue Welt der Dinge, Gefühle usw. Das Eindeutige wird zum Zweideutigen oder Mehrdeutigen. Das Außen wird zum Innen. In diesem Moment erscheinen die Dinge bewusst oder unbewusst in uns neu, anders.

Seit Jahrhunderten versuchen Philosophen, Psychologen, Neurowissenschaftler, Kognitionswissenschaftler, Biologen, Priester, Künstler, Verschwörungstheoretiker und viele Andere, diese Transmission des Außens zum Innen (und später dann wieder das Innens zum Außen) zu ergründen, ohne bisher eine eindeutige Antwort gefunden zu haben. Das „Ding an sich“(Kant) wird zu einem eigenen Ding in mir nur dann, wenn es ein Ding gibt:  „Vom leeren Raum kann es keine Erfahrung, auch keinen Schluss auf das Object derselben geben. Von der Existenz einer Materie belehrt zu seyn dazu bedarf ich Einflus einer Materie auf meine Sinne.“ 2)

Dieser interne Nukleus der eigenen Wahrnehmung und die dann in uns entstandenen neuen Bilder, Gefühle, Töne, Texte und Erkenntnisse waren seit jeher ein Tabubereich, den in früheren Jahrhunderten und entsprechenden Religionen (Religio – zurück zu den Wurzeln) nur Gott ergründen konnte und vielfach mit Moral belegt wurde und wird. Und den das eigene Ich, das Subjekt z.B. durch die Gebote oder äußere Regeln mitbestimmen muss.

Es ist der Bereich, der nur dem Selbst gehört, die eigene, individuelle Identität als innere Realität. Oft ist diese wie ein Traum, eine Dopplung, eine Parallelwelt. Das vermeintlich Objektive wird zum Subjektiv des eigenen mentalen, emotionalen oder intellektuellen Erlebens. „Dieser innere Prozess ist wie träumen, während man wach ist“ 3). Das kann befriedigend sein, dramatisch, kann Angst machen oder Neues erschaffen. Hier kann eine allgemeine Vorstellung (das ist eine Giraffe/das ist ein Leuchtturm) zu einer eigenen Ein-Stellung mutieren (Das ist eine Leucht-Giraffe).

Das heißt: Die allgemeine Bedeutung kann sich durch diesen Prozess in meine eigene Bedeutung transformieren, so gebe ich der wahrgenommenen, gesellschaftlich abgestimmten Form eine eigene, neue Form. Das kann eine hohe Form der Freiheit sein – wie viele Künstler und Künstlerinnen formulieren, aber auch Zwang, Geißel oder Depression bis zum Suizid.

Vergleichbar mit dem Spiel z.B. von Kindern, die einem geformten Stück Sand eine eigene Bedeutung zuweisen, nämlich Kuchen (übrigens wird diese neue Bedeutung immer bedeutungsloser, je mehr das Kind lernt, die allgemeine Bedeutung der eigenen Deutung unterzuordnen). Es kann aber auch die höchste Form der Einsamkeit sein, wenn z.B. solche inneren Transmissionen und Kreationen nicht nach außen dringen, nicht wahrgenommen, nicht geachtet, kritisiert oder zerstört werden.

An dieser Stelle ähnelt Kreativität dem Spiel, indem sie mittels der Kraft z.B. der Imagination, Wahrgenommenes verändert, ergänzt, verwirft, erneuert. In diesem innersten aller Transformationsprozesse schafft sich das Selbst eine neue, nun selbst gedeutete Welt, in der „kognitive Verarbeitung aufgehoben ist“ 3).

Hier beginnt Kunst.

Durch dieses los-lassen-können herkömmlicher Deutungsmuster (oft ein schmerzvoller, langer, dramatischer Prozess z.B. vom Realen zum Abstrakten zu gelangen), entsteht ein neues, eigenes, von keinem anderen Menschen so erfühltes, erdachtes, erträumtes, fantasiertes Werk, ob als Bild, Skulptur, Gedicht, Roman, Komposition usw. (Im Unterschied zum Plagiat – dabei wird versucht, den genannten inneren Transformationsprozess eines anderen Menschen nachzuahmen).

Durch einen solchen kreativen Prozess, nimmt der Künstler, die Künstlerin dem Ding der Realität ihre Eindeutigkeit. Am deutlichsten zu beobachten bei den Surrealisten des letzten Jahrhunderts, die den Dingen eine neue, unkonventionelle Bedeutung verliehen und gängigen Erwartungen widersprachen. Solche Entgrenzungen machten und machen bis heute Angst, weil man seine gewohnten, sichern Pfade verlassen und sich auf die Pfade eines einzelnen Schöpfers einlassen muss. Mann muss die Grenzen seiner gewohnten, sichernden, u.U. geliebten Grenzen verlassen und sich auf eine neue, vielleicht fremde Sicht einlassen.

Je tiefer man eindringt in diese Ebenen eigener Entgrenzung, um so mehr male nicht ich, sondern es malt mich, nicht ich schreibe mehr, sondern es schreibt mich. Dieses ES ist in jedem Menschen anders, jeder Mensch hat andere Möglichkeiten, zu diesem ES zu gelangen, ob als Trance, als Meditation, als Gebet – oder aber Kunst.

Dieses ES hat dann einen neuen eigenen Sinn des Werkes er-schaffen, ein Gedicht, eine Komposition, ein Bild usw.

Ist dann eine Kreation erschaffen und selbst wenn sie ungeplant und dem Künstler selbst ein Rätsel, nämlich das Rätsel seiner selbst, ist, kann (oder muss) sie mitgeteilt, geteilt werden. In dem Moment verlässt das Werk die innere Phase der Kreation und entäußert sich.

Hier entsteht nun die zweite Schwelle: Nach dem Übergang der Welt in das Innen des Ichs, verlässt das kreierte Objekt nun  seinen innersten Raum, transformiert, neu geschaffen usw. den internen Kern, um die Welt des Außens zu betreten.

Das geschaffene Teil wird zum Mit-Teil, es kann mitgeteilt werde, gehört, gesehen, gerochen, gelesen werden. Hustvedt schreibt (hier bezogen auf die Werke von Gerhard Richter):     

“Ein Kunstwerk muss ein Rätsel sein. Es muss mich in die Position einer Nichtwissenden versetzen, anderenfalls langweilt mich mein eigenes Verstehen. Ich schreibe nicht über Kunst, um sie zu erklären, sondern um sie zu erforschen, was zwischen mir und dem Bild emotional und intellektuell vorgegangen ist. Der Akt des Betrachtens findet letzten Endes immer in der ersten Person statt. Ich sehe das Objekt, aber schon der Akt des Sehens schließt die Kluft zwischen mir und ihm. Sind in dem Augenblick Subjekt und Objekt nicht in einer vereinten Wahrnehmungsschleife zusammengeschweißt?“ 369

So bedingen sie sich einander: Künstler und Betrachtender, weil er nicht nur ein lebloses Ding betrachtet, sondern ein Objekt (Musik/Bild/Roman), in dem noch Spuren des Künstlers verborgen sind, die der Betrachter zum Leben, zu seinem Leben erwecken kann. Es ist ein stiller Dialog, den man oft sieht oder spürt, wenn ein Betrachter vor einem Bild steht, das ihn „berührt“, wo sich zwei Innenwelten treffen, verstehen, fremd sind oder erst in einem langen Prozess andeutungsweise deckungsgleich werden.

Bei diesem Internetauftritt zu WORT und BILD sind Sie eingeladen, sich auf eine Reise des Erkennens, Begreifens und Verstehens zu begeben, der Ablehnung, der Nähe, der Distanz, der Weiterentwicklung oder Eigenkreation. WORT und BILD stellen hier zum einen zwei eigene Bereiche dar, aber auch kreative Verknüpfungen. Beide sind nichts weiter, als die Entäußerung eines inneren Prozesses, den Sie nachempfinden, kritisieren, überlesen, lieben oder kreativ weiterentwickeln können, wenn Sie sich darauf einlassen. Schön wäre es, wenn Sie an dieser Stelle dann mit mir in Kontakt treten.

Viel Spaß, Freude, Verständnis, Kritik und Gefühl bei dem Gelesenen und Gefühlten.

Anmerkungen

  1. „Leben ist Intersubjektivität – der Schreiber ist abwesend, aber seine Worte werden Teil meines inneren Monologes“, Siri Hustvedt, Leben,denken schaffen, Seite 181,rororo 2014

  2. Immanuel Kant: AA XXI, 21

  3. Siri Hustvedt, ebenda, Seite 357

  4. Siri Hustvedt, ebenda, Seite 369

C Bild/Text Michael Troesser